Ulrike Draesner
Die Verwandelten. Roman




Langsam ließen wir die Lichter der Stadt hinter uns. Die meisten im Waggon trugen Kopfhörer, die Frau mir gegenüber, Augen gesenkt, der Mund ein Strich, war in ihr Tablet vertieft. Der Junge auf der anderen Seite des Ganges, etwa in Flummys Alter, drehte mit beeindruckender Geschwindigkeit an seinem Zauberwürfel, während die Person neben ihm, Vater, Mutterfreund, Onkel, Couscous aus einer Plastikschale löffelte. Es dämmerte. Mein Gesicht stand in der Scheibe, golden wie ein Geist aus Unschärfe und Strom.

Mit 290 km/h summten wir Richtung Norden.

Das also war übrig: ich in einer schmalen, erleuchteten Kapsel. Unterwegs durch die aufziehende Winternacht. Das war übrig: sitzen, fahren, erben. Ein bequemer Zustand. Erst waren wir überall zu viele gewesen, Kindergarten überfüllt, 45 Wuselkörper im Klassenzimmer, zwei Contergan, Anstehen noch fürs Klo, rempeln, rennen oder Bandenführer sein. Ich lehnte mich tiefer in den Sessel zurück. Das Kissen passte nicht, alles war also wie immer. Wir, die vielen, hatten nie Eigenschaften gehabt. Nun saßen wir überall, drehten an den Schräubchen, schoben uns als Wählerbalken die Alterspyramide hinauf. Auch das zu dicke Kissen in meinem Nacken schob sich nach oben. Es war ein Rest, auf Postkarten des 19. Jahrhunderts konnte man bewundern, wie zart es die Lehnen der lederbezogenen Sessel im Panoramawaggon des Dampfzuges bedeckt hatte. Vergangenheit blieb hängen. Wie Haarfett. Schon mein eigenes Haarfett gefiel mir nicht. Leider konnte man das Kissen nicht abschneiden ohne aufzufallen. Sachbeschädigung wäre es zudem.

Kurz hinter Spandau hatten sie das erste Mal angerufen, Flummy und das Au-pair. Flummy hieß Faiza Alberta Magnolia Viktoria, war Flummy. Das Au-pair, Laura aus der Schweiz, hatte letzte Woche gekündigt, so musste ich mir wenigstens keine Sorgen darüber machen, wie der heutige Abend zuhause ohne mich so laufen würde. Ob die Hilfe danach kündigte. Der Vorteil der Anruferei war, dass ich mich ungemein gefragt fühlen konnte.  

Für Flummy war ich mehr als übriggeblieben. Eine Spätmutter, eine Wiederberufseinsteigerin auf Spätmutterbasis, eine Frau, die ihr Kind allein ließ und zu einem Vortrag fuhr. Noch einmal lehnte ich mich gezielt entspannt zurück, das war wie „lächel dich selbst vor dem Spiegel an“, und nippte an meinem Cappuccino. Wohlig, beschäftigt, gefragt wollte ich sein. Zuhause bezahlte ich eine junge Frau für die Carearbeit an einem Kind, das ich auf verschlungenen Wegen adoptiert hatte, weil ich vor lauter Ausbilderei lange wartete mit dem Kinderbekommen etc. Nun hatte ich das Kind und war zurück in meinem Beruf, der sich mir unter den Händen in einen Erbenberuf verwandelte. Tatsächlich waren wir eine Zeitlang die Erbengeneration genannt worden. Welch Irrtum. Unsere Eltern, die Kriegskinder, erwiesen sich als so zäh, wie wir geahnt hatten. Sie schoben ihre Rollatoren durch Heimflure, atmeten, schimpften und änderten alle naslang ihr Testament. Altgeworden setzten sie das Weitergeben dessen fort, was sie von jeher weitergegeben hatten: nicht wissen, nicht zugeben wollen. Abwehren: ja. Bestimmen: unbedingt. Klagen: professionell.



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