Thomas Stangl
Quecksilberlicht. Roman




Das Mädchen läuft aus dem Haus, verzweifelt, mit einem Schrei in der Kehle. Es gibt keine Richtung, nur ihre Verzweiflung, undurchdringlich und fast abstrakt, ich stelle mir vor, diese Verzweiflung hätte sich losgelöst vom Leben, zu dem sie gehört, der Person, der Geschichte und festgesetzt an diesem Ort, in der Luft. Rund um das Mädchen ist nichts (und auch sie ist schon lange tot), aber die Verzweiflung ist da, die Geste, in der Luft hängengeblieben, ausgebrochen aus dem Leben, zu dem sie gehört, frei verfügbar (so bilde ich mir ein). 

Ich versuche, den Ort zu rekonstruieren; was ist das für ein Haus, aus dem das Mädchen (meine Großmutter, an die ich keine Erinnerung habe, dreizehn Jahre alt) läuft? Das hier, unter diesem grauen weiten Himmel, ist jedenfalls Simmering, „Arsch von Wien“, der XI. Bezirk, in einer Zeit, die über hundert Jahre zurückliegt. Der Schlachthof ist nah, das Gaswerk, der Zentralviehmarkt, die Gleise der Schlachthausbahn und die Pferdestraßenbahn zum Zentralfriedhof. Dann aber auch Wiesen, tiefer unten, schon nah am Donaukanal, die Heide. Die Straßen sind breit, mit dörflich niedrigen Häusern, dahinter die Rauchfänge der Fabriken, überall Staub, Pferdemist, ein lose gewobenes Netz aus Tagen, Bildern, Gerüchen. Geht sie einen Schritt zu weit, durch den Tunnel einer finsteren Sekunde hindurch, gelangt sie ins Moor, der Gestank bleibt der gleiche, er folgt ihr, ins Moor, das sich ausbreitet gleich hinter den letzten Häusern von Haworth, kahle blaue Bäume und ein ausgebleichter Himmel, er folgt ihr (während sie langsam ihre Gestalt verliert) in die Bambuswälder und über betäubend grüne Hügel, all das entsteht Schritt für Schritt, Regionen, Vorzeiten und Gegenwarten und ihre hingekritzelten Bewohner.

Das sind wir. Siehst du?

Jaja.

Ein Igel läuft quer über den Weg, pass auf, dass du nicht draufsteigst. Die Wohnung ist sicherlich zu eng, unerträglich eng, eine Wohnung in Simmering Anfang des 20. Jahrhunderts.

Sie läuft aus dem Haus, abends, unter einem weiten, einem löchrigen grauen Himmel, drei Stufen hinunter auf die Straße, ein Mädchen mit langem blondem Haar, das sie vermutlich zu Zöpfen geflochten und vielleicht unter einem Tuch versteckt hat, sie läuft aus dem Haus, verzweifelt und mit einer ihr fremden Wildheit, als sollte sie nie mehr zurückkehren. Ich stelle mir vor, die Geste würde in der Luft hängenbleiben und die Verzweiflung von einem zum anderen wandern, die Verzweiflung der äußersten Momente, man kann diese Verzweiflung ja nicht für sich behalten, über ein ganzes Leben und den Tod hinweg.


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