Susanne Gregor
Wir werden fliegen.
Roman




Er ist verschwunden, sagt Nora statt einer Begrüßung, als sie die Tür öffnet, und sogleich wendet sie sich ab, geht in Richtung Küche, ohne eine Antwort abzuwarten. Misa betritt die Wohnung ihres Bruders und stellt fest, sein Leben ist für sie unbekannt. Regale voller Turnschuhe, die er zum Joggen benutzt haben könnte oder einfach gern bei der Arbeit trug. Eine silberne Armbanduhr auf der Kommode, wo er doch früher Uhren gehasst hat. Ob die Tablettenschachteln, die im Regal aufgereiht stehen wie kleine Soldaten, seine oder Noras sind, wagt sie nicht zu fragen. Sie folgt Nora in den dunklen Flur, an dessen Ende die Tür zu einem kleinen Schlafzimmer halb geöffnet ist, erkennt darin ein ungemachtes Bett und einen Bücherstapel auf dem Nachtschrank, hier hat er also gelesen, hier hat er geschlafen, denkt sie und betritt die moderne, sterile Küche, in der Nora auf sie wartet, auf ihn wartet. Hier hat er gekocht, hier hat er gegessen, von diesem Fenster aus auf die Straße geschaut. Sie versucht sich jedes Detail seines Lebens vorzustellen, als würde er, wenn sie es nur richtig rekonstruiert, gleich wieder auftauchen.




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