Susanne Gregor
Halbe Leben. Roman


Es ist ein stiller Tod. An einem sonnigen Mainachmittag um vierzehn Uhr siebenunddreißig stürzt Klara an einer unscheinbaren Böschung fünfzig Meter in die Tiefe. Sie gibt keinen Laut von sich, zu hören ist nur ein schnelles Rascheln der Blätter, es könnte auch ein Reh sein, das davonläuft. Unten ein dumpfer Aufprall, dann Stille. An der Stelle, an der sie bis eben noch stand, nichts als ein paar dünne Zweige, brauner Boden, ein Baumstumpf, darauf Ringe, die nach außen hin immer heller werden. Wie ruhig Klaras Gesicht gewesen ist in diesem letzten Moment, wie angstlos, wird Paulina später denken.

Aber noch hält sie sich an einem mit Moos bedeckten Baum fest, beugt sich über den Abhang, von dem sie weiß, wie steil er ist. Ruft ein paar Mal Klaras Namen, wartet auf eine Antwort, holt ihr Handy aus der Tasche, sieht, dass es keinen Empfang hat, kann sich aber an eine Lichtung erinnern, die sie vorhin passiert haben und an der sie ihr Display gecheckt hat. Sie lässt den Baum los, reibt ihre feuchte Hand ab und macht ein paarSchritte in die Richtung, aus der sie gekommen sind. Sie weiß, dass jetzt womöglich jede Sekunde zählt, dass sie eigentlich laufen sollte, aber sie kann nicht. Ihre Beine sind schwer, ihr Gang ist langsam, die Bäume hier sehen alle gleich aus, es ist, als würde sie auf der Stelle treten.



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