Louise Glück
Treue und edle Nacht. Gedichte
Aus dem amerikanischen Englisch von Uta Gosmann




G L E I C H N I S                              

Nachdem wir uns von weltlichem Gut getrennt hatten, wie der heilige Franziskus lehrt,
damit unsere Seelen sich nicht                                            
um Gewinn und Verlust bekümmerten und auch damit      
unsere Körper sich an den Bergpässen                               
frei bewegen könnten, mussten wir besprechen,
woher oder wohin wir reisen wollten, wobei die zweite Frage war,
ob wir eine Bestimmung haben sollten, wogegen               
viele von uns empört einwandten, dass solch eine Bestimmung    
weltlichem Gut entspräche, Begrenzung und Verengung wäre,
während andere sagten, dass erst dieses Wort uns
nicht zu Wanderern, sondern wahren Pilgern mache: In unseren Augen wies das Wort auf einen Traum, ein Ersehntes, das, wenn wir uns konzentrierten,                
wir zwischen Steinen vielleicht glänzen sähen und nicht              
blind daran vorübergingen; alle                               
weiteren Fragen besprachen wir ebenso gründlich, reichten Argumente hin und her,   
so dass wir, sagten manche, unbeweglicher und mutloser wurden
wie Soldaten in einem sinnlosen Krieg. Und Schnee fiel auf uns nieder, und Wind blies,
der mit der Zeit nachließ—wo Schnee gelegen hatte, wuchsen viele Blumen,
und wo zuvor die Sterne leuchteten, schob die Sonne sich über den Waldkamm,
so dass wir wieder Schatten hatten; viele Male geschah dies.
Und auch Regen und manchmal Überschwemmungen und Lawinen, in denen     
mancher von uns verlorenging, und zuweilen schienen wir uns
fast geeinigt zu haben, schulterten schon                
unsere Feldflaschen; doch zog der Moment stets vorüber, so dass                       
wir (nach vielen Jahren) immer noch am Anfang waren, immer noch
den Aufbruch planten. Trotzdem fanden wir uns verändert;
wir sahen es einander an; wir hatten uns verändert, obwohl
wir uns nie bewegt hatten, und einer sagte, ach, seht doch, wie alt wir geworden sind,  während wir nur vom Tag zur Nacht reisten, nicht vorwärts noch seitwärts, und dies erschien unswie ein Wunder auf seltsame Weise. Und wer glaubte, wir sollten eine Bestimmung haben, glaubte, dies sei die Bestimmung, und wer meinte, wir sollten
frei bleiben, um die Wahrheit zu erfahren, meinte, sie habe sich offenbart.




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