Irene Langemann
Das Gedächtnis der Töchter.
Roman




Der Stationslautsprecher knistert, kündigt einen Zug an. Sein fernes Grollen vermischt sich mit den Durchsagen. Hochspannungsleitungen summen, auch sie kündigen die Einfahrt des Zuges an. Oder seine Durchfahrt. Zwei Arbeiter steigen die Stufen der Brücke hoch, sie schleppen Gummikabel, die Schlangenspuren im Schnee hinterlassen. Es riecht nach verbrannter Kohle und Ruß. Ein Güterzug, braun, unendlich, zieht sich unter dem Viadukt hindurch. Er vibriert unter mir, mit mir, in mir. Meine Hände in den gestrickten Fäustlingen umklammern das vereiste Metallgeflecht, sind schon zu Krallen erstarrt. Schneekristalle flirren vor den Augen.

Wie anders ist es im Sommer, wenn Mutter mit Petja und mir auf den Viadukt steigt und wir den Zügen nachschauen. Unsere Hände umfassen das warme Geländer, der Wind kühlt das Gesicht, zerzaust Mutters hennagefärbte Locken, hebt Petjas Haarwirbel über der Stirn und meinen Blumenrock an. Mein Bruder steht in kariertem Hemd und kurzer Hose auf den Zehenspitzen, das Kinn drückt er an die Brüstung. Sein Gesicht strahlt, die Sommersprossen auf der Stupsnase leuchten gold-braun. Wir schließen Wetten ab, ob der nächste Zug hält oder weiterfahren wird. Personenzüge auf Durchreise verabschiedet unsere Mutter mit einer deutschen Liedstrophe:

Ade, mein Lieb, ich muss jetzt gehen,
ich kann nicht mehr verweilen,
und geh ich auch, ich kehr zurück,
sei‘n es auch zehntausend Meilen.

Die zehntausend Meilen gehen mir nicht aus dem Kopf. Von Belsk bis Peking sind es laut Schulatlas dreieinhalbtausend Kilometer, von Belsk bis Moskau zweieinhalbtausend. Aber zehntausend? Da müsste man über den Ozean nach Amerika fliegen. Doch Amerika ist ferner als der Mond. Dort regiert der Haifisch-Kapitalismus, während wir den Kommunismus aufbauen und den entwickelten Sozialismus bereits bestaunen können. Sogar hier, in Sibirien, im November 1969.


https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/das-gedaechtnis-der-toechter.html?lid=1

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