Christiane Wirtz
Wie schwer wiegt ein Schatten. Roman
In ihrem ersten Leben hieß sie Kalina. Wer ihr diesen Namen gegeben hatte, konnte niemand sagen. Vielleicht eine Mutter, die zu jung war, um Mutter zu sein. Vielleicht eine Mutter, der es an Zuversicht fehlte, das Mädchen in Armut großzuziehen. Vielleicht waren es auch die Frauen in dem bulgarischen Waisenhaus, als sie den Säugling in ihre Obhut nahmen. Wer wusste das schon. Die Frauen sagten nicht viel, als David Kalina dort abholte. Zu viele Münder wollten gestopft werden, da blieb keine Zeit für Ahnenforschung. Nach dem Leben der Frauen fragte ja auch keiner.
Nur ein einziges Mal hat er von dieser Reise erzählt. Es war Winter gewesen, das Waisenhaus lag in einem Dorf in der Nähe von Plovdiv, die Straßen waren von Schnee bedeckt. David hatte sich von seinem Vater einen Anzug geliehen, schließlich würde er an jenem Tag selbst Vater werden. Der Anzug war zu klein und kein Schutz gegen die Kälte. Wenn er die Hände am Steuer des ramponierten Mietwagens hielt, klaffte ein breiter Streifen nackter Haut zwischen den Ärmeln und den Knöcheln seiner Handgelenke. Ich dachte an die Super 8-Filme meiner Kindheit, doch dieser hier hatte keine Farbe, niemand lachte in die Kamera. Die Aufnahme war leicht verschleiert, ein zweijähriges Mädchen auf dem Boden eines fensterlosen Gymnastiksaals, es saß mit geradem Rücken, die Beine von sich gestreckt, und sah David an.
„Sie war fast zwei und konnte noch nicht laufen.“
David nahm sie auf. Er gab ihr einen neuen Namen, Shiri, ein neues Leben. So wie man Menschen, die schwerkrank waren, in Israel den Namen „Chaim“ gab. Chaim wie „das Leben“. Shiri wie „mein Lied“.
Kapitel 1
Zwei Jahre später, als Shiri vier Jahre alt war, lernte ich David kennen.
An jenem Morgen war ich auf dem Weg ins Studio in den Tolaa’t Sfarim gegangen, den Bücherwurm, einer Buchhandlung mit Café am Rabin-Platz. Ich setzte mich an einen der quadratischen Tische nahe der Bar und bestellte bei Anat einen Harfouch, einen israelischen Cappuccino. Das Café erstreckte sich über einen lang gezogenen Raum, an dessen Ende Sprossenfenster den Blick auf einen kleinen, schattigen Hof freigaben. Am frühen Morgen waren wenige Gäste hier, einzelne hebräische Worte erklangen, Tassen und Teller klapperten, eine Radiostimme mischte sich ein. Der Duft von frisch gemahlenen Kaffeebohnen, gebratenen Spiegeleiern, sie kamen sunny-side-up aus der Küche.
Die englischsprachige Haaretz lag vor mir, auf dem Titel Nachrichten aus Gaza, in den vergangenen Tagen waren wieder Menschen gestorben. Die Hamas feuerte Kassams in den Süden Israels. Ein Kommentator bezeichnete die jüdische Bevölkerung in Sderot als „sitting ducks“, leicht anzugreifende Ziele. Er diskutierte die Optionen der israelischen Regierung: eine militärische Intervention, indirekte Verhandlungen mit der Hamas und kam zu keiner eindeutigen Antwort. „There is no abracadabra“, war der Artikel überschrieben. Ich blätterte um, sah auf die Rückseite; als ich nichts von Interesse fand, riss ich die fett gedruckten Lettern heraus. Eine Angewohnheit aus jener Zeit, in der ich noch Collagen machte.
Ich legte sie auf die dicke Glasplatte über dem alten Holztisch, fuhr mit dem Daumen über die Zauberformel.
a-bra-ca-da-bra
a, b, c, d
lateinisches Alphabet
Während ich darüber nachdachte, dass die Spätantike dem Alphabet magische Kraft zugeschrieben hatte, ließen sich doch mit Buchstaben alle Dinge der sichtbaren und unsichtbaren Welt benennen, schweifte mein Blick durch das bodentiefe Fenster nach draußen.
Auf dem breiten Gehweg unter den Arkaden stand eine Frau. Sie war klein und eher mager als schlank, vielleicht Mitte 50, über ihren Schultern hingen zwei große Werbetafeln, wie sie Schausteller früher auf Jahrmärkten getragen hatten. Sie bedeckten ihren Körper fast vollständig. „Dream reading“ stand in großen Buchstaben darauf geschrieben. Darunter ihre Telefonnummer.
„Das ist Nancy.“ Er saß am Tisch neben mir und war meinem Blick nach draußen gefolgt, streckte mir die rechte Hand entgegen.
„Ich bin David. Und wer bist du?“
„Mia.“
Er war ein groß gewachsener Mann mit breiten Schultern und einem Gesicht, das immer in Bewegung schien. In seinen hellen, olivgrünen Augen lag Vertrauen, etwas Vertrautes, das ich nicht zu fassen wusste. Wenn ich später an David dachte, an meinen ersten Eindruck von ihm, fiel mir ein Wort ein, das er mir beigebracht hatte. „Ben Adam“, wörtlich „Sohn Adams“, so nannte David einen Menschen, der dem Leben mit ganzem Herzen gegenübertrat, sich nicht wegduckte, in guten und in schlechten Zeiten. Ein „Ben Adam“, das war ein Mensch.
David hatte mit Nancy, der Frau mit den großen Schildern, schon häufig gesprochen.„Nur einer, der so verrückt ist wie ich, ruft sie tatsächlich an.“
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