Anne Weber
Bannmeilen. Ein Roman in Streifzügen.




Rückblickendes Vorspiel

Thierry ist der einzige Franzose, den ich je im sogenannten Passé simple habe sprechen hören, einer Vergangenheitsform, die im Französischen schon lange nur noch in der Schriftsprache überlebt. Im Deutschen gibt es dafür keine Entsprechung, doch die Wirkung ist ungefähr, als würde jemand sagen: In diesem Haus ward meine Mutter geboren. Es war befremdlich, ihn so reden zu hören. Und es war komisch, denn er verwendete diese altertümlichen Verbformen ohne jedes ironische Lächeln, als sei dies die übliche Art, sich auszudrücken.

Nicht, dass er ständig derart gestelzt gesprochen hätte. Es ist eine ferne Erinnerung, die jetzt, da ich über ihn nachdenke und von ihm erzählen will, in mir aufsteigt und eine neue Bedeutung erlangt. Ich habe ihn nur ein paar Wochen und nicht einmal in Frankreich, sondern in Guatemala so sprechen gehört. Thierry träumte damals davon, einen Film über die 1944 bei einer Demonstration erschossene guatemaltekische Lehrerin Maria Chinchilla zu drehen, und er war zu Recherchezwecken längere Zeit dort unterwegs. Zusammen mit Nadia, einer gemeinsamen Freundin, über die ich ihn kennengelernt hatte, war ich für drei Wochen zu ihm gestoßen und dort, vor den Maya-Tempeln von Calakmul, Nakum, Aguateca, Ixun und Tikal, deren Geschichte er uns erklärte, hatte er unvermittelt angefangen, im Passé simple zu sprechen. Wie ein Buch. Nicht im Sinne von am laufenden Band, sondern so korrekt und gekünstelt, wie nur Bücher klingen können. Warum fällt mir das heute wieder ein? Vielleicht, weil mir nun erst bewusst wird, was ich zwar damals schon wissen konnte, worüber ich mir aber nicht viele Gedanken gemacht hatte, nämlich womit dieses Wie-ein-Buch-Reden womöglich zu tun hatte: Thierrys Vater konnte weder lesen noch schreiben.




https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/bannmeilen.html

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