Die Gespenster im Stillstand

In Ihrem letzten Buch, „Reisen und Gespenster“, das aus Essays, Reiseberichten und Preisreden zusammengestellt ist,  schreiben Sie den Satz: „Lange Zeit habe ich mich bemüht, nur schriftlich zu existieren.“ Da klingt Proust durch, aber auch die Sehnsucht nach, wie Sie schreiben, „anderen Zügen, freier und souveräner als es die aufgezwungenen wirklichen je sein konnten“.   

Natürlich ist dieses „nur schriftlich existieren“ etwas Unmögliches. Einerseits hat der Satz eine biographische Ebene: Ich habe nicht nur schriftlich existiert, aber ich habe versucht, die Literatur für mich nur übers Lesen und Schreiben zu betreiben, ohne irgendeinen Kontakt zur literarischen Szene, zu literarischen Zirkeln zu entwickeln, was an sich nicht etwas unbedingt Empfehlenswertes ist …   

Warum nicht?   

Weil es einerseits die Gefahr gibt, dass man seine Texte zu sehr im eigenen Saft kocht und niemals zu etwas Abgeschlossenem kommt, weil man ohne einen Blick von außen und einer Kritik von außen jeden Satz in Zweifel ziehen kann, jeder Satz wieder eine Korrektur herausfordert und man dann in etwas, was bei Hegel „schlechte Unendlichkeit“ heißt, hineinkommt, weil man letztlich immer wieder das auflöst, was man macht, und nirgendwo hingelangt. Andererseits ist es auch aus rein praktischen Gründen wesentlich schwieriger, ohne jemanden zu kennen, ab und zu Texte verschickend, wirklich zu einer Resonanz zu kommen, ein Buch herauszubringen. Gleichzeitig bezeichnet dieses „nur schriftlich existieren“ auch etwas, was für das, was ich unter Literatur verstehe, sehr wichtig ist, nämlich dass Literatur Zugang zu Aspekten der Wirklichkeit und der Persönlichkeit schaffen kann, die in gewöhnlichen sozialen Beziehungen, im normalen Alltag nicht so herzustellen ist. Das schreibende Ich ist ein anderes Ich als das soziale Ich, ein etwas peinlicheres, fragwürdigeres, aber gerade diese Ungeschützheit kann so etwas wie einen nicht mehr nur individuellen innersten Kern einer Person sichtbar werden lassen.  

Ist es auch eine Abkehr von der Welt, in der die andern „durch Sprechen oder sogar durch Schauen besiegen und vernichten wollen: dem anderen in die Lebenszüge fahren, ihn aburteilen nach seinem Gesicht“?   

Ich denke, dass man einer Person vielleicht in der Literatur leichter gerecht werden kann, dass eine Art von .. ich weiß nicht, ob es jetzt das richtige Wort ist … dass eine Art von Liebe zu den Figuren in der Literatur leichter ein Grundelement oder eine Grundhaltung sein kann als in der Zerstreuung des wirklichen Lebens, ein Zugang von innen und von außen, ein Verständnis der Motivation bis in eine Tiefe hinein, die man, wenn man sie jedem Menschen im wirklichen Leben entgegenbringt, ja gar nicht ertragen könnte.   

Ist es eine Frage der Konzentration?   

Ja und gleichzeitig auch eine Art von Gerechtigkeit, eine Art von Zweckfremdheit. Ich finde es im Lesen immer besonders störend, wenn Personen ausschließlich durch die Funktion, die sie innerhalb einer Erzählung haben, definiert werden, wenn sie reduziert sind auf irgendeinen Erzählzweck, den der Autor verfolgt. Eine Person, über die ich lesen oder schreiben will, wird erst dann interessant, wenn etwas Unbekanntes, etwas Bedeutungsloses, etwas dem Erzählzweck Widerstrebendes in ihr wahrzunehmen ist.   

Größere Fülle und weniger zielgerichteter Zugriff, wäre es das?   

Ich weiß nicht, ob „Fülle“ das richtige Wort ist, aber zumindest ein Aushalten von Ambivalenzen und von inneren Widersprüchen, vielleicht ist „Weite“ ein Wort, das mir lieber wäre.   

Wenn Sie jetzt „Weite“ sagen: Sie haben Ihren ersten Roman, „Der einzige Ort“,  in der Wüste Afrikas angesiedelt, in „Reisen und Gespenster“ fahren Sie nach Mexiko, auf den Spuren von Antonin Artaud. Mir scheint da eine Sehnsucht im Spiel zu sein, als ob es möglich wäre, vor die Dualismen zurückzukehren, Vernunft, Geschichte, Wissenschaft etc., die unserer Leben prägen, so etwas wie eine ursprüngliche Einheit der Landschaft mit den Menschen, die darin leben, zu rekonstruieren.   

Das stimmt zwar einerseits, andererseits besteht in dem Versuch auch eine gewisse Gefahr von exotistischer Romantik. Ich finde diese Sehnsucht legitim, aber ich glaube, dass man sie nicht nur auf ferne Weltgegenden beziehen kann, eigentlich ist sie genauso in meinen Wien-Büchern zu finden, in den Spaziergängen am Donaukanal oder im Augarten, während andererseits die Reisenden, ob der Tourist, der Artaud folgt, oder die beiden sogenannten Entdecker in Afrika, immer wieder merken, dass diese Weite eine Illusion ist, dass zwar  in bestimmten Momenten die Welt, die Erfahrung sich für sie öffnet, dass sie aber am Ende doch immer wieder in ihrem Körper feststecken, in ihrer Fremdheitserfahrung und dass dann für sie der Ort, an dem sich zufälligerweise befinden, nicht mehr ist als eben der Ort, an dem sie sich zufälligerweise befinden. Die Enge der sozialen Beziehungen, in denen sie feststecken, die beiden Afrikareisenden, unter Menschen, mit denen sie auf komplizierte Weise und ohne ganz zu verstehen, was überhaupt um sie vorgeht, verhandeln und leben müssen, die Erfahrungen des Nicht-Weiterkommens – all das hat nichts mit einer „ursprünglichen Einheit“ zu tun. Die Sehnsucht finde ich legitim, ob es jetzt um Entdeckungsreisen geht oder um gewöhnlichen Tourismus, weil da auch eine Sehnsucht nach der Besonderheit der Erfahrung drinsteckt. Andererseits haben diese Entdeckungsreisen auch etwas ganz kläglich Touristisches an sich. Im Tourismus merkt ja jeder, dass man in eine andere Art Alltag hineinrutscht, dass man den dort lebenden Menschen nicht gerecht wird, wenn man sie als Staffage für seine Sehnsucht mißbraucht, dass sie ihre eigene Form von Normalität haben.

Den gesamten Text, erschienen in VOLLTEXT 3/2012, 
schicke ich Ihnen gerne auf Anfrage. zurück