Ich kann allem widerstehen, nur der Versuchung nicht


Wenn ich es recht sehe, haben Sie sofort mit dem begonnen, was wir intertextuelle Wirklichkeit nennen.
  

Ich spreche ziemlich ungenau von meinen Büchern. Bei dem allerersten, bei „Fancsikó und Pinta“, ob ich da schon damit gespielt habe … vielleicht nicht. Aber bei dem zweiten, guten, aber unbedeutenden Erzählungsband, da waren die Zitate schon drinnen.                 

Hatten Sie dafür literarische Vorbilder? Haben Sie sich Lieblingssätze herausgeschrieben?
  

Als ich zwanzig war, habe ich zwar viel gelesen, aber ich war nicht im Literaturbetrieb, ich habe Mathematik studiert. Das war sehr angenehm … jetzt komme ich mir vor wie bei den Erinnerungen an den ersten Weltkrieg – wie war es damals? Also gut, ich versuche es. Vor meinem ersten Buch habe ich beinahe nichts geschrieben, vielleicht dreißig Seiten oder vierzig.  

Das ist wirklich nichts.
  

Neulich sind mir die drei Seiten, die ich mit siebzehn geschrieben habe, in die Hände gefallen, also klassisch unbegabt, würde ich sagen, nicht einmal schlecht, das gibt es ja auch, hoffnungsvoll schlecht.  

Ein unbegabter Text eines begabten Schülers?
  

Ich war tatsächlich immer ein Vorzugsschüler, weil ich eine schöne Vorstellung von der Schule hatte. Ich dachte, dass man in die Schule geht, um zu lernen. Ich war bei den Piaristen, das waren ernste Männer, und dachte, die wissen etwas und werden mich jetzt einweihen, das fand ich sehr spannend. Und mein Text zeigt, dass er von jemandem mit guten, aber nicht literarischen Fähigkeiten gemacht wurde.  

Was war das für eine Geschichte?
  

Heute sage ich, bei mir gibt es keine Figuren, keine Geschichte, leider, wie schön wäre es … aber in dieser ersten Erzählung waren Figuren, und diese Figuren habe ich allein geschaffen. An diesen göttlichen oder faustischen Moment erinnere ich mich. Es gab eine Köchin, und es hing nur von mir ab, ob diese Köchin alt oder jung, groß oder fett sein sollte, gut, habe ich gedacht, sie soll fett sein. Diese Macht fand ich sehr lustig. Und als ich mit den drei Seiten fertig war, wusste ich schon, dass ich ein Schriftsteller bin. Ging ziemlich leicht. Aber ich dachte nicht daran, dass ein Schriftsteller auch schreiben soll. Ich war sehr glücklich mit der Entscheidung, einfach weil sie gefallen war. Man weiß ja in dem Alter nicht, ob man Pferdezüchter wird oder besser Lokomotivführer. Nach der Matura musste ich mich für ein Fach an der Universität entscheiden, ich wollte, was nahliegend war, Literatur studieren, aber das ging nicht.  

Doch nicht aus politischen Gründen?
  

Natürlich aus politischen. Ich kam von den Piaristen, mit diesem Namen, wollte ein Lehrfach studieren, das ging wirklich nicht, die unschuldigen kleinen Kinder zwischen meinen Händen … Also wählte ich Mathematik, weil ich ein wenig Begabung dafür hatte, jedenfalls so viel, dass ich die Aufnahmeprüfung ganz leicht schaffte. In dieser Umgebung war ich ein Kuckucksei. Die Mathematik habe ich auf eine interessante Weise nicht verstanden, und das war auch ein schönes Erlebnis. Ich erinnere mich an ein Algebra-Examen, wo ich ganz genau verstand, dass ich etwas nicht verstand, dass also mein Verstand nur von da bis dorthin reicht. Und das ist dann auch sehr sinnlich. Denken ist ja überhaupt sehr sinnlich. Damit vergingen drei, vier Jahre, dann kam mein erstes Buch, Erzählungsreihen, die zusammenhängen. Ich würde sagen, dass ich schon dieses Buch mit einem Können geschrieben habe. Das kann ich deshalb ruhig tun, weil ich von diesem Können nicht viel halte, es bedeutet nichts. Es war in meinen Händen. Ich sage das jetzt nicht mit Understatement. Es ist zwar besser, man hat es, als man hat es nicht, aber wenn man es hat, hat man auch nicht viel. Begabung ist zwar wichtig, aber wichtiger ist noch, was man mit seinem Nicht-Begabtsein anfängt.  

Wir waren bei der Intertextualität.
  

Ja, genau; ich kam nicht aus Überlegung zu meiner Intertextualität, sondern durch die Praxis. In meinem zweiten Buch gibt es eine Erzählung von einem Spion, und ich dachte, dass der Spion etwas mit Straßenmädchen zu tun haben sollte, und zufällig stoße ich auf ein Buch, in dem von einem Polizisten beschrieben wurde, wie man eine Hure erkennt. Schon wichtig. Das fand ich sehr schön, habe gar nicht lange nachgedacht, sondern die Stelle einfach genommen, wie ein Kind, und das ist heute noch so: Wenn ich etwas brauche, dann nehme ich es, egal, ob es sich gehört oder nicht. Und leichthin könnte man sagen: Später stellte sich heraus, dass es Intertextualität ist.  

Sie haben ja, in einem anderen Sinn, auch eine Erzählung von Danilo Kiš an sich genommen.
  

Das gehört auch dazu. Kiš hatte eine sehr schöne Erzählung mit dem Titel „Ruhmreich ist es, für das Vaterland zu sterben“ geschrieben, die etwa so anfängt: An diesem Aprilmorgen, als der junge Esterházy vor seinem Henker oder vor seinem Gericht stand und so weiter. Als ich das gelesen habe, war das ein Erlebnis. In dem Sinn, dass das ein Text ist, den ich hätte schreiben sollen, aber nicht schreiben konnte, denn wenn ich auf das Wort „Esterházy“ stoße, wird es bei mir komplizierter, verständlicherweise. Danilo hat ihn statt mir geschrieben. Aber es ist nicht wichtig, wer den Text geschrieben hat, der Herrgott oben weiß es auch nicht, er liest nur die Texte. Damals habe ich Kiš noch nicht gekannt, und da habe ich ihm eine Postkarte geschrieben, dass ich den Text einfach genommen habe, als ganzen Text, eine Einverleibung gewissermaßen. Und er hatte sehr großzügig reagiert. Hatte auch keine andere Wahl.  

Das Können ist also kein schriftstellerisches Kriterium für Sie. Was wäre denn eines?

Können reicht nicht, Wissen auch nicht. Wenn man schreibt, muss man sehr viel wissen, aber man muss dieses Wissen auch wegwerfen können. Aber alles kann man auch nicht wegwerfen, denn wenn man alles wegwirft, dann hat man nichts und kann auch nichts machen. Vom Wissen kommt nichts, nur Routine, und vom Nichtwissen kommt auch nichts. Wegwerfen und trotzdem benutzen, das ist das ewige Hin und Her. Dann die Begabung, wozu braucht man sie? Um gute Sätze zu schreiben? Jeder kann gute Sätze schreiben. Der größte, der wichtigste Teil der Arbeit ist, für diese Sätze die Umgebung zu machen, natürlich mit anderen Sätzen. Dass man alles auf dem Papier hat, dieses Bild benutze ich immer, das ist entscheidend. Bei Übersetzungen sehe ich manchmal Sünden. Wo waren die Sünden? Die Sätze sind absolut in Ordnung. Wieder ohne Koketterie. Aber ich habe gesehen, dass man etwas missverstanden könnte, wo ich es nicht will. Das bedeutet, dass nicht alles auf dem Papier war. Es ist immer verdächtig, wenn nach einer Lesung gesagt wird: Jetzt habe ich Sie verstanden. Es kann bedeuten, dass der Text meine persönliche Unterstützung braucht oder meine Stimme oder sonst etwas, das ist illegitim. Die Sätze bekommen ihren literarischen Status durch den Ort, würde ich sagen, das unterscheidet sie von Sätzen, die zum Beispiel in der Zeitung stehen. In einer guten Zeitung sollen, können, müssen auch gute Sätze sein. Aber in einem Zeitungsartikel steht der Autor nicht hinter jedem Satz, hinter dem Sinn des Satzes schon, aber nicht hinter der physischen Erscheinung. Sagt man auch im Deutschen, dass jemand eine gute Feder hat? So leicht schreibt? Eine gute Feder zu haben, das ist nichts.  

So würden Sie die Literatur von anderen Arten des Schreibens abgrenzen?
  

Zumindest so, wie wir sie bis jetzt verstanden haben. Miklós Mészöly ist für mich ein großes Beispiel. Bei jedem Satz, in jedem Detail spürt man diese Ausstrahlung von Energie, diese Gespanntheit. Mészöly hat noch die Vision, zu der einzig möglichen Metapher zu kommen, das ist das Programm der klassischen Moderne. Doch jetzt gehen die Zeichen in eine andere Richtung. Der literarische Text soll ein wenig schneller sein, soll ein wenig witzig sein. Ich habe nichts gegen Witz, das muss ich vielleicht nicht extra betonen, aber dieses gewollte Lachen und Lachen lassen … ich weiß nicht. Also die Bewegung ist jetzt eine andere, aber gegen eine Bewegung kann man nichts machen, der Fluss fließt.  

Diese Tendenz spiegelt sich ja auch in der Mikrostruktur der Texte.
  

Als ich jung war, kam ich in eine sehr plumpe Literatur. Plump in dem Sinn, dass Literatur politisch aufgefasst wurde, zwar schlecht geschrieben, aber inhaltlich wichtig, und das war legitim. Ich finde das inakzeptabel. Doch jetzt ist es umgekehrt. Nádas spricht immer von gut geschriebenen Sätzen, ich spreche immer davon, und diejenigen, die jetzt fünfundzwanzig oder dreißig sind, hören das schon eine Ewigkeit. Klar, dass sie keine gut geschriebenen Sätze wollen, das finde ich auch absolut in Ordnung, nur muss man etwas statt der mit Einsatz geschriebenen Sätze finden. Man kann nicht einfach sagen, gut, dann schreibe ich schlechte Sätze, denn schlechte Sätze sind schlechte Sätze. Es dauerte etwas, bis ich begriffen habe, dass ich auch für die Jüngeren jemand bin, dem man ausweichen muss, der im Weg steht, stehen kann. Das Problem habe ich nie gehabt, ich konnte immer sehr leicht lernen, von vielen. Ich hatte dabei nie Schuldgefühle, Dankgefühle auch nicht.  

Sie haben den Roman „Schule an der Grenze“ von Géza Ottlik auf ein einziges Blatt Papier geschrieben. Das ist eine Hommage und zugleich eine Auslöschung.
  

Bevor ich davon erzähle, fällt mir noch etwas zu den Zitaten ein, eine klassische Geschichte. Die Nachbarin kommt herüber, hat mein Buch in der Hand, sie war begeistert und wollte mir ihre Lieblingsstellen zeigen, sieben Lieblingsstellen hatte sie, also ziemlich viel, und fünf davon waren nicht von mir, waren Zitate. Ich habe ihr das nicht gesagt, nicht aus Eitelkeit, ich wollte ihr Leben nicht zerstören, sondern habe mich nur bedankt. Aber daran zu denken war dann doch kein gutes Gefühl.  

Verständlich, aber man muss die Zitate auch finden, und man muss den Ort für sie schaffen.
  

Es ist natürlich nicht gut, wenn jemand nichts von den Zitaten merkt, denn das bedeutet, dass derjenige in einer ganz anderen Welt lebt, und dann hat es der Text schwerer. Aber es kann trotzdem gehen. Auch bei Übersetzungen bleiben viele Anspielungen stumm.  

Sie wollten noch von der Ottlik-Überschreibung erzählen.
  

Ja, in gewissem Sinn gehört das auch zum Bereich Zitate. Ich habe am Anfang gar nicht daran gedacht, dass man die Überschreibung auch als Zerstörung sehen kann, wie Péter Balassa es so genau beschreibt. Ich habe es erst bemerkt, als ich das Bild Ottlik überreicht habe. Er wusste nicht recht, wie er es auffassen sollte, ob er sich freuen sollte oder nicht. Ich habe die Entscheidung in seinem Gesicht gesehen. Schließlich hat er sich doch gefreut, und dann haben wir wie zwei ausgetretene Mathematiker unter diesem Bild, das sehr schön ist, geredet. Darüber, dass es eine eindeutige Beziehung zwischen zwei Mengen gibt, das Bild ist eine eindeutige Abbildung des Romans, es kann nur durch diesen Roman entstehen. Jeder Roman hat sein Bild, und jedes wäre anders. Das ist auch sehr typisch für mich: Ich habe gar nicht über poetische Implikationen nachgedacht, ich wusste nur, dass es sehr schön ist, wenn Schrift auf Schrift kommt. Das wusste ich, weil es eine Frau gibt, deren Namen ich tausend Mal geschrieben habe, auf einen kleinen Zettel. Da entstand dieses schwarze Nichts, das sehr lebendig war. Aber dass dadurch eine  nicht-lesbare Version zustande kommt, dass das so radikal ist, daran habe ich nicht gedacht.  

Den gesamten Text, erschienen in Was für ein Péter! Über Péter Esterházy
schicke ich Ihnen gerne auf Anfrage. zurück