Lektorat

Lektoren rücken seit einigen Jahren stärker in das Blickfeld der Öffentlichkeit. Es wird über ihre Arbeit geschrieben, sie schreiben über ihre Arbeit, es wird nachgefragt, sie antworten: auf Fragen zu Trends in der zeitgenössischen Literatur, Schreibschulen, Werkstätten, der Rolle der Agenten, der eigenen, sich vom stillen, klugen Leser zum „Produktmanager“ (was für ein Wort!) hin verschiebenden Position, zum Autor als Promotor seiner selbst, zu beglückenden oder deprimierenden Verkaufszahlen. Das alles gehört zum Betriebssystem, das alles hat der Lektor im Blick, ja, er muss es haben, denn wo bliebe die Literatur ohne Öffentlichkeit? Was nicht erscheint, ist nicht. So einfach ist das.

Aber, aber, aber: trotz aller Veränderungen des Berufsbilds, trotz eines sich immer schneller drehenden Angebots, eines Markts, der gefräßig ist, ungeduldig und bedient werden will, trotz des aggressiven Wettbewerbs um Aufmerksamkeit in den Feuilletons, um Platz in den Buchhandlungen und auf Lesebühnen – die Konzentration auf den Text, das langsame, mitdenkende, nachfragende Lesen ist und bleibt das Herzstück seiner Arbeit. In allen anderen Bereichen ist der Lektor austauschbar. Hier nicht.

Der Lektor ist der erste professionelle Leser des Autors. Vor ihm haben vielleicht andere das Manuskript bekommen, Partner, Freunde, Schriftstellerkollegen, auch sie kommentieren, auch ihr Urteil ist geschult, aber es hat einen geringeren Grad von Verbindlichkeit. Nicht nur deshalb, weil der Lektor an der Schnittstelle zur Öffentlichkeit agiert, weil er dem Autor eine Publikation anbieten kann – bzw. die Weichen dafür stellen – und somit seine Überlegungen, Vorschläge, Korrekturwünsche ein anderes Gewicht bekommen, sondern auch deshalb, weil er in einem Wechselspiel von Nähe und Distanz liest, die Feinarbeit an den Sätzen ebenso im Blick hat wie die Architektur des Ganzen, das Besondere des Textes so wie die Literaturgeschichte, denn Autoren schreiben, ob sie es wahrhaben wollen oder nicht, vor diesem Hintergrund. Dort liegen die Maßstäbe. Alles neu Geschriebene muss sich davor bzw. dagegen behaupten.

Der Autor, egal wie erfahren er ist, wie anerkannt, erfolgsverwöhnt – wenn sein Werk entsteht, ist er allein. Das Pathos vergangener Zeiten ist uns fremd geworden, man spricht nicht mehr von der „wesentlichen Einsamkeit“ (zumindest nicht ins Mikrophon), begreift sie nicht mehr als konstituierenden Faktor eines schöpferischen Prozesses, so wenig übrigens wie die „Notwendigkeit“, früher das Kriterium schlechthin, doch der Autor, der es ernst meint mit dem Schreiben, kennt beides nach wie vor, das macht seine Gewissheit aus und seine Verwundbarkeit. Meist schätzt er gut ein, was ihm gelungen ist und in welchem Ausmaß, Autoren sind außerordentlich kluge Menschen, aber so hilfreich wie ein Blick in den Spiegel, bevor man aus dem Haus geht, ist ein Blick von außen auf das Werk, bevor es an die Öffentlichkeit tritt.

Der Lektor bietet seine Lesart an, schätzt die Entwicklung innerhalb eines Oeuvres ein, macht auf plötzlich aufspringende Türen aufmerksam oder auf sich verengende Wege. Er liest abwägend, prüfend, Satz für Satz. Worauf achtet er? Es gibt klassische Fehler wie folgende: die Protagonistin ist im ersten Kapitel blond, danach dunkel, war aber dazwischen nicht beim Friseur. Das ist zwar eine störende, aber doch kleine Unaufmerksamkeit und keiner großen Diskussion wert, so wie auch etwaige Tipp- oder Interpunktionsfehler. Komplizierter wird es, wenn an einem Text in verschiedenen Entwürfen (Dateien) gearbeitet wurde, die später zusammengeführt werden. Da kann es leicht vorkommen, dass Grundkoordinaten wie Zeit-, Raum- und Personenkonstellationen durcheinandergeraten, dass eine Figur sich verhält, wie sie sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht verhalten kann, weil die Situation, die dem vorausgehen sollte, erst folgt, dass eine Passage, die im Sommer spielt, an eine Winterszene gefügt wurde und der Autor nicht daran gedacht hat, Kleidung, Licht oder Nahrungsmittel der Jahreszeit anzupassen. Auch da finden sich die Lösungen meist schnell. Das größte Maß an Aufmerksamkeit, Anstrengung aber fordern diejenigen Stellen, die noch nicht gehärtet sind. Gerade wenn sich der Autor heiklen Punkten nähert, schlägt er manchmal im letzten Moment einen Bogen um die Gefahrenzone, gerade wenn ihm etwas selbstverständlich erscheint, findet er es leicht überflüssig, es noch auszuführen, und er begnügt sich mit einer Kurzfassung, der der Leser nicht zu folgen vermag, zumindest nicht dorthin, wo er ihn gerne hätte.

Solche Überlegungen zum Thema zu machen, ihnen bis in die Satz- und Bildstruktur hinein nachzugehen erfordert Konzentration, Wertschätzung und  Hingabe (an die Sache) von beiden Seiten, dann aber wird es einfach. Autoren haben ein feines Gespür, für das Gelungene wie für die schwächeren Stellen, sie wissen, wo noch mehr herauszuholen wäre, und sie wollen einen Partner in diesem Prozess. Begeisterung ohne Auseinandersetzung stellt die wenigsten langfristig zufrieden.

In solchen Gesprächen bildet sich das Verhältnis zwischen Autor und Lektor heraus. Es muss, soll die gemeinsame Arbeit gelingen, von Vertrauen geprägt sein. Das kann sich auch sehr diskret ausdrücken. Wenn zu schnell von Freundschaft gesprochen wird, ist Skepsis angebracht. Denn bei aller Kenntnis von Person und Werk, bei aller gegenseitigen Wertschätzung, das Verhältnis bleibt stets asymmetrisch. Das hat einen einfachen Grund: Der Autor, der diesen Namen verdient und nicht nur auch mal schnell ein Buch geschrieben haben will, steht auf der Seite der Kunst. Egal, wie weit er in dieses Feld vorzudringen vermag, egal, wie viel Beachtung er erfährt, egal auch, wie sein Kontostand aussieht, er arbeitet auf etwas hin, was ihn übersteigt und bleibt. Der Lektor, egal wie erfahren, detektivisch, einfühlsam, belesen er ist, hat daran nicht teil – aber in bestimmten Momenten kommt er in die Nähe. Die einen zentrieren sich um Schreibtisch und Lampe. Welches Getöse sonst auch immer um einen Autor oder ein Buch gemacht wird, in diesem stillen Raum, es ist der klarste, der sich denken lässt, ordnet sich die Welt, und man kann genauer als davor oder danach das spezifische Gewicht der einzelnen Sätze, Bilder, Passagen und Werke bestimmen. Die anderen Momente  – wenn sie sich denn einstellen, das tun sie nämlich nicht immer – sind meist in der zweiten Hälfte des Lektoratsgesprächs angesiedelt. Dann ist so viel gesprochen, abgewogen, gefeilt und geschliffen worden, so viel nachgedacht, gekämpft und gelacht (ja, das auch), dass es für die nächsten Stunden keine Hierarchie mehr gibt, keine Deutungshoheit, keine Revierkämpfe, keine Innen- oder Außensicht, sondern nur noch die gemeinsame, beharrliche Arbeit an der Zeile, die sie gerade fordert.

In solchen Momenten liegen Glück und Geheimnis dieses Berufs.

zurück